Kapitel 3
"Wenn ein Drache steigen will, muss er gegen den Wind fliegen." - chinesisches Sprichwort
Tag 9
Nachdem ich gestern am Balaton angekommen bin, habe ich mir wieder eine bleibe gesucht. Einen Rest Day am Balaton möchte ich mir dann doch gestatten. Das Wetter heute ist eh nicht optimal und ich kann die Chance wieder nutzen um ein wenig am PC zu arbeiten bevor es morgen in aller frische entlang des Balatons geht. Lediglich um im lokalen Supermarkt die Vorräte aufzufüllen und für den Tag etwas zu besorgen, habe ich mein Anwesen verlassen.
Solche geplanten Ruhetage dienen nicht nur als Energiespender, sie sind auch sehr dienlich um das zuvor erlebte zu verarbeiten. Das ist der große Vorteil, wenn man mit Fahrrad unterwegs ist. Anhalten wo man will, seine Umgebung wahrnehmen. Ziel ist es nicht, möglichst schnell irgendwo anzukommen, sondern die Vielseitigkeit der Strecke wahrzunehmen.
Lediglich das Wandern stellt wohl eine noch intensivere Form der Umgebungswahrnehmung dar.
Tag 10
Bevor es heute weiter geht, heißt es wieder packen. Wie sehr man doch sein bisschen Kram an nur einem Tag zerstreuen kann. Am Ende findet jedoch alles wieder seinen vorgesehen Stauplatz. Ein System, welches sich nach und nach verfestigt.
Bevor das Fahrrad beladen wird noch ein stärkendes Haferbrei Frühstück und dann geht's wieder ans anbauen.
Ich freue mich richtig heute weiter zu fahren. Besonders da es den ganzen Tag die Balaton-Route entlang geht. Aber nun genug gekunkelt. Es ist ja schon wieder um 11. Los jetzt.
Kaum los habe ich die ersten Gelegenheit genutzt um ans Wasser zu gehen. Der Tag ist dabei sein Versprechen einzulösen. Vom gestrigen Regen ist nichts mehr übrig. Heute schwebt die Sonne als alleiniger Himmelsbesitzer über dem See.
Es dauert nur wenige Kilometer und mein Ersteindruck vom Balaton und der Region wandelt sich komplett. Als wäre ich hunderte Kilometer vom Nord-Östlichen Ende des Sees entfernt, tut sich rund um die Halbinsel Tihany ein komplett anderes Bild auf.
Hier wurde viel Geld in Sanierung, Modernisierung und Tourismus gesteckt. Es reihen sich Hotels und Ferienwohnungen sowie dazugehörige Restaurants und Shops aneinander. Freizeitmöglichkeiten gibt es zu Genüge. Ohne direkt nach ihnen gesucht zu haben komme ich an Spaßbädern, Seilgärten und GoKartBahnen vorbei. Ja, das hier ist ein Urlaubsgebiet.
Auf Tihany selbst gibt es einen kleinen Hügel auf welchen sich ein kleiner Ort erstreckt. Hier wurde auch versucht das traditionelle noch beizubehalten. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass hier zur Hochsaison andere Zustände herrschen. So war es für mich ein sehr angenehmes Vorankommen mit ständigen Halts um die Aussicht auf den riesigen Balaton zu genießen.
Desto mehr ich mich von der Halbinsel entfernte änderte sich auch wieder das Bild. Nicht mehr ganz so modern und zugebaut.
Ab Badacsonytomaj führte die Route etwas weg vom See durch ein Weinanbaugebiet. Offensichtlich auch ein sehr beliebtes Ziel unter Wanderern. Der sonnige Tag hat sie alle herausgelockt. Scharen von Menschen, bestückt mit Sonnenhüten, Wanderschuhen und Trekkingstöcken, wuselten durch die Weinebenen.
Ein Weinkeller nach dem anderen lud mit frischen Brot, fabelhaften Ausblick und natürlich Wein, die Leute zum verweilen ein.
Mist, jetzt klinge ich schon wie so ein Touristenguide den es an jeder Tankstelle zu kaufen gibt. Dabei habe ich nicht mal, auch nur eines, der Angebote genutzt. Mir hat es gereicht beim langsam Fahren die Aussicht zu genießen und in den Sonnenuntergang zu radeln.
Apropos Sonnenuntergang. Ich muss mir mal wieder Gedanken machen wo ich verbleibe. Zelten mache ich wieder nicht. Jetzt bin ich auch wieder Abseits genug von den touristischen Ballungsgebiet, dass sich schnell eine passable Unterkunft für die Nacht findet.
Die Akkus der Technik laden und am nächsten Morgen wieder zeitig los. 80 Kilometer habe ich heute geschafft. Hätte ich gar nicht gedacht, nach dem ich so viel angehalten habe um einfach zu beobachten.
Zum Abschluss von diesem Tag, möchte ich an dieser Stelle noch mal auf einen anderen genannten Punkt von mir zu Sprechen kommen.
Der Umgang mit den Tieren. Ich möchte da nämlich kein Schubladendenken oder eine einseitige Sicht über ungarische Menschen unterstützen.
Nachdem ich auf meinem Weg bis hier her, viele Tiere gesehen habe, bei denen die Haltungsbedingungen nicht meinen Vorstellungen entsprechen. Hat es mich umso mehr gefreut wenn es Menschen gibt, welche sich um ihre Tiere sorgen. Auch wenn es nur ein Gesuche nach einer entlaufenen Katze ist. Dies zeigt, dass die Samtpfote eben nicht nur ein Mäusefänger für den Besitzer ist.
Auch wenn mir persönlich so etwas zu selten auffällt, darf man solche Aspekte nicht aus den Augen verlieren.
Tag 11
Noch vor 9 Uhr saß ich wieder auf dem Fahrrad. Heute will ich die 90 Kilometer bis zur kroatischen Grenze schaffen.
Das bedeutet für mich, Abschied nehmen vom Balaton. Dies dann doch etwas unspektakulär an einem noch grauen Tag.
Mit der Entfernung vom Balaton, musste ich auch wieder mit den Straßen vorliebnehmen. Doch auch dies ist kein Problem, da es genug kleinere Nebenstraßen gibt, welche nicht so befahren sind.
Vorbei an Feldern und vielen Dörfern schlängelten sich die Straßen durchs Land. Erst kurz vor 12 Uhr habe ich an einem kleinen Supermarkt Stopp gemacht und mir etwas zum Frühstück geholt.
Ich komme außergewöhnlich gut voran, so dass das 90 Kilometer Ziel heute kein Problem sein sollte.
Es ging immer weiter. Das Knie fing ein wenig an zu zwicken. Aber ich habe es ignoriert und bin weiter gefahren.
Irgendwann wurde es immer schlimmer und ich musste versuchen irgendwie das Knie zu entlasten. Doch keine Chance. Wie soll man beim Treten das Knie entlasten?
Als ich Nagykanizsa erreichte, war es dann so schlimm, dass es für mich keine Möglichkeit gab weiter zu fahren. Selbst laufen hat mittlerweile Schmerzen verursacht.
Verdammt. Ich lag perfekt in der Zeit. Enttäuscht und genervt habe ich mir eine Unterkunft gesucht. Dies hat sich als schwieriger als erwartet herausgestellt, so dass ich in ein Hotel gegangen bin.
Dann alles aufs Zimmer gebracht und Beine lang gemacht.
Scheiße, hoffentlich ist das morgen wieder weg.
Tag 12
Nein ist es nicht. Das Knie schmerzt noch genauso wie gestern. Also zur Hotellobby und mein Zimmer um einen weiteren Tag verlängert.
Weiter schonen. Es ist Sonntag, doch zum Glück haben in Ungarn trotz dem einige Geschäfte geöffnet. So habe ich mir einen Drogeriemarkt rausgesucht um zu schauen, ob ich da etwas finde, was mir weiter helfen kann.
Auf dem Weg dahin, habe ich das Fahrrad genommen. Nur nach wenigen Metern musste ich aber wieder schieben und konnte immer durch zwischendurch mal rollen.
So ein Mist. Mit so einem Rückschlag habe ich nicht gerechnet.
Im Drogeriemarkt fündig geworden und im Zimmer versucht das Knie zu behandel und Dr. Google befragt, was ich alles machen kann um den Heilungsprozess zu beschleunigen.
In erster Linie Ruhe.
Am Abend ging es dem Knie zumindest so gut, dass ich laufen konnte.
So habe ich einen kleinen Spaziergang durch die Stadt gemacht und in einem netten kleinen Lokal am Marktplatz die ungarische Küche genossen.
Tatsächlich ist es mir bisher nicht schwer gefallen, vegetarische Gerichte zu finden. Ich muss zugeben, das hätte ich so nicht erwartet.
Tag 13
Heute scheint mir das Knie wieder besser zu sein. Also ausgecheckt und rauf aufs Fahrrad.
Ja OK, etwas zwickt es noch. Aber ich halte es auch im Hotel nicht mehr aus. Ich will einfach weiter.
Auf dem Weg aus der Stadt, noch einen Zwischenstopp bei einer Apotheke. Doch leider konnte mir da nicht weiter geholfen werden.
Ein weiterer Halt bei einem Drogeriemarkt. Hier habe ich wenigstens einen Knieschoner gefunden. Vielleicht bringt dieser ja etwas.
Dann endlich wieder rauf aufs Fahrrad. Nach dem ich nun schon einige Tage Unterwegs bin, merke ich wie sehr es mich jeden Tag antreibt weiter zu fahren. Ich beginne diese ganzen Langstreckenenthusiasten zu verstehen. Wenn man einmal mitten drin ist, will man, dass es immer weiter geht.
Doch das bleibt mir heute verwehrt. Nichts mit immer weiter. Nach nur wenigen Kilometern ist der Schmerz wieder komplett da. Umkehren will ich trotz dem nicht.
So quäle ich mich die paar Kilometer noch nach Letenye an der kroatischen Grenze und nehme mir hier wieder ein Zimmer.
Diesmal direkt bis Donnerstag. So bringt es leider einfach nichts. Ich muss dem Knie mehr Zeit geben.
Tage 14 und 15
Diese beiden Tage fasse ich einfach mal zusammen. Denn passiert ist nichts. Es dreht sich alles um Ruhe fürs Knie.
Ich mache leichte Übungen und gehe auf Spaziergänge durch den Ort.
Viel Zeit um sich Gedanken zu machen. Gedanken darüber, was das alles für mich jetzt bedeutet.
An dieser Stelle kann ich wohl froh sein, dass ich mir nie einen Festen Plan gemacht habe wie diese Reise aussehen soll und wo ich wann sein möchte. Gerade mal seit Bratislava weiß ich, dass ich an die adriatische Küste möchte um meinen Weg nach Athen fortzusetzen.
Doch durch mein aktuelles Problem, steht nun alles auf der Kippe. Ich hätte nie gedacht, dass mein Körper mal solche Probleme machen würde. Daher bin ich auch absolut nicht auf so eine Situation vorbereitet. Ein Unfall, OK. Das bekomme ich hin. Den lässt man ausheilen und dann geht es weiter.
Aber so. So weiß ich nicht, wo das hinführt. Ist das Problem in ein paar Tagen weg? Dauert die Genesung länger? Wenn sie dann weg ist, kommt das Problem dann irgendwann wieder?
Das sind die Gedanken, mit denen ich mich dieser Tage auseinandersetzen muss.
An den schlimmsten Fall wag ich gar nicht zu denken.
Ich werde am Donnerstag weiter fahren, wenn das Knie einigermaßen in Ordnung ist. Von Letenye bis Zagreb sind es ungefähr 120 Kilometer. Das heißt 2 Tage fahrt für mich. In dieser Zeit werde ich merken, wie es meinem Knie ergeht.
In Zagreb selbst, werde ich dann wieder weiter sehen müssen, wie es weiter geht.
Ich habe vorher nicht groß geplant und mache es jetzt auch nicht. In der Hauptstadt von Kroatien werde ich weiter sehen und neue Entscheidungen treffen. So jetzt der Plan, wer weiß ob dieser so bestehen bleibt.
Da ich gerade so viel Zeit habe mir Gedanken zu machen, möchte ich auch ein weiteres Thema ansprechen.
Das Zelten und die Fremde
Bei meiner Planung und Vorbereitung war dieses Thema ein essenzieller Bestandteil. Ich dachte ich würde alle 3 – 4 Tage einen Schlafplatz unter einem festen Dach aufsuchen um etwaige technische Geräte zu laden und selbst etwas ausführlichere Körperhygiene betreiben zu können und Sachen zu waschen.
Daraus wurde bisher nichts. Jede Nacht habe ich Unterkünfte aus den verschiedensten Gründen aufgesucht. Das geht ganz schön ins Geld und entspricht nicht ganz dem Freiluftabenteuer in meiner romantisierten Vorstellung.
Ich bin dabei diese Gründe für mich zu erörtern und daran zu arbeiten.
Mein Gefühl von Abenteuer wurde bisher dadurch erfüllt, jeden Tag unterwegs zu sein und mit dem Fahrrad fremde Länder und Regionen zu entdecken. Hinzu die sportliche Herausforderung jeden Tag ein bisschen weiter als am Tag zuvor zu fahren.
Reisen hat in meinem bisherigen Lebenslauf keinen großen Platz eingenommen. Der Reiz liegt für mich darin, es einfach zu machen und selber herauszufinden wohin es führt. Die persönliche Komfortzone zu verlassen.
Na klar habe ich mich vorher im Internet ausgiebig mit dem Thema beschäftigt. Es gibt so viele Menschen welche ihre Erfahrungen mit der Welt teilen. Es ist leicht an Informationen zu kommen. Doch wie es am Ende für einen selber ist, das kann man auch nur selbst detektieren.
Und genau das mache ich. Ich lasse die Eindrücke in der Fremde auf mich wirken, um lang indoktriniertes Halbwissen aus meinem Kopf zu überschreiben. Als typischer Mitteleuropäer hört man immer nur, wie gefährlich es auf der Welt ist. Die meisten haben ihr vermeintliches Wissen auch nur von anderen oder aus dem Internet.
Es gab auch auf meiner Reise Situationen in denen ich mich eingangs unwohl oder sogar unsicher gefühlt habe. Zum Beispiel als ich mitten in der Nacht am Bahnhof in Bratislava angekommen bin und noch ein paar Kilometer durch die Stadt radeln musste, um zu meiner Unterkunft zu kommen. Ohne irgendwas über diese Stadt zu wissen, war mir unbehaglich. Warum? Weil sie in Osteuropa ist? Ich weiß es nicht.
Ich komme dort an, bepacke mein Fahrrad und fahre los. Es stellt sich raus, es ist eine ganz normale Fahrt durch eine Großstadt wie ich es schon hunderte male in Leipzig gemacht habe.
Auch hier wieder eine Empfindung welche sich im Nachgang nicht bestätigt hat.
Vorsicht und gesunder Menschenverstand sind ein guter Begleiter. Vor allem anderen kann man sich eh nicht schützen.
Man darf nicht die Idioten, welche es in jedem Land gibt, über das Gesamtbild entscheiden lassen. Das mag jetzt plakativ klingen und irgendwie ist es auch jedem Bewusst. Doch es dann selbst auch anzugehen, ist noch mal etwas anderes.
So auch beim Zelten. Wildcamping ist in so gut wie jedem Land verboten.
Aus irgend einem Grund habe ich in einem fremden Land mehr Respekt davor diese Grenze zu überschreiten, als im Heimatland. Doch ich bin mir sicher, dass auch diese Blockade im Kopf bald fallen wird und wenn sich der nächste gute Platz oder die nächste gute Gelegenheit ergibt, ich diese nutzen werde und dann nicht mehr davon los komme.